Vom Glück des Zusammenklingens

Alleine Singen macht Freude. Mit anderen zusammen singen macht noch mehr Freude. Gemeinsames Singen ist lustvoll, heilsam, berührend und uns Menschen ein inneres Bedürfnis. Nicht nur zur Weihnachtszeit. Wenn Stimmen zusammen klingen, entsteht ein Klangraum, eine Energie, die wir selber nicht herstellen können. Wir sollten es deswegen unbedingt öfter tun.

Gemeinsam die Stimme erheben

Seit eh und je gehört das Singen zu menschlichen Begegnungen und Ritualen dazu. Heute wird in Familien oder bei sonstigen Zusammenkünften von Freunden oder Kollegen nur noch selten gesungen. Doch wir sehnen uns danach, uns über die Stimme mit anderen Wesen zu verbinden. Seit der regelmäßige Kirchgang nicht mehr zum Alltag der allermeisten Menschen gehört, gibt es nur noch wenige Gelegenheiten das gemeinsame Singen (und Sprechen!) mit anderen Menschen und die damit verbundene Kraft zu erleben.

Singen im Rudel

Das Singen im Fußballstadion – mit zehntausenden Menschen – ist eines der kraftvollsten Stimmerlebnisse, zu denen „normale Menschen“, die sonst nicht unbedingt mit Musik oder Chorsingen in Berührung kommen, noch Zugang haben. So lassen sich nahezu magische Momente erleben, die alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer finanziellen und privaten Situation und ihres sonstigen Lebens – mit einem starken Band verbinden. Nicht ohne Grund schießen „Mitsing-Konzerte“ und Rudelsingangebote aus dem Boden. Das gemeinsame Erlebnis, der Klang und die geteilte Leidenschaft, öffnet Türen und macht schlicht glücklich.

Chorsingen

Gemeinsam mit anderen Musik zu erschaffen ist ein wichtiger Teil des Chorsingens. Ich behaupte jedoch, dass der wichtigste Grund warum Menschen zu Chorsängern werden, der Wunsch nach Verbindung ist. Erst neulich war nach einem intensiven Chortag, den ich als Chorleiterin begleitet habe, und bei dem der gemeinsame Klang und das Aufeinanderhören im Vordergrund standen, am Ende klar: Das Wichtigste ist, sich wirklich miteinander zu verbinden. Kontakt mit den anderen Menschen und Stimmen scheint, jenseits der Musik an sich, ein Grundbedürfnis zu sein.

Mehrstimmigkeit

Besonders berührend ist es für mich persönlich immer, wenn Menschen mehrstimmig singen. Wie Töne sich verbinden, sich reiben, eine eigene Dynamik entwickeln, sich gegenseitig verstärken und in der Summe mehr sind als zwei einzelne Töne, beglückt mich. Und damit bin ich sicher nicht allein. Es gibt wenig andere Möglichkeiten, dem Phänomen der menschlichen Begegnung so intensiv nachzuspüren. Sich anlehnen an einander. In Reibung treten, nach Auflösung streben. Das sind Aspekte menschlicher Begegnung, die, wenn sie sich als Klang manifestieren, äußerst lustvoll erlebt werden können. Ich kann einen anderen Ton singen als mein Nachbar oder meine Mitsänger. Ich kann Individuum bleiben und mich trotzdem verbinden.

Freie Töne

Diese Phänomene können wir aber nicht nur im Chor erleben. Insbesondere auch das gemeinsame freie Tönen und Improvisieren sind als Experimentier- und Erlebnisraum perfekt. Ich bin stimmlich im Raum. Ich finde meinen Platz. Ich nehme Beziehung auf zu einem Partner oder dem Rest der Gruppe. Ich erlaube mir die Unsicherheit einer echten Begegnung und lasse mich überraschen, was sich daraus entwickelt. Eine solche Stimmbegegnung kann durchaus sehr intim sein. Kann und will ich mich wirklich zeigen? Möchte ich, dass mein Klang sich im Gesamtklang auflöst oder dass er heraussticht? Wird die Begegnung zu einem befriedigenden Ende kommen?

Stille

Und wie erlebe ich die Stille am Ende einer stimmlichen Begegnung? Ist sie lustvoll, prall, energiegeladen oder bin ich oder sind meine Mitsänger erschöpft oder unzufrieden? Stille ist auch gemeinsamer Klang und kann mindestens ebenso sehr als Kontakterlebnis wahrgenommen werden. Stille, bevor ein Klang entsteht, ebenso wie zwischendrin und am Ende. Stille erzählt viel über die, die sie gemeinsam erschaffen und wahrnehmen.

Singen unterm Tannenbaum

In vielen Familien gehört das Singen unterm Tannenbaum immer noch zum Weihnachtsfest dazu. Aber leider wird es nicht immer als Freude, sondern manchmal auch als Pflicht erlebt. Wie wäre es, wenn wir dieses Mal an Weihnachten nicht das Abhaken bestimmter Lieder, sondern das Erlebnis des Zusammenklingens in den Vordergrund stellen würden? Wie würde das gemeinsame Singen sich wohl anfühlen, wenn wir es nicht als Pflichtübung ansehen, als Wettstreit, wer am Schönsten oder Schrägsten singt, sondern wenn wir es aus purem Klang- und Begegnungsgenuss tun?

Alternativprogramm

Wir könnten z.B. unterm Weihnachtsbaum zunächst mal summen. Jeder summt für sich und wir lauschen, wie aus den vielen verschiedenen Tönen eine Klangwolke entsteht. Wenn wir mutiger sind, können wir es auch auf uh oder ah versuchen.
Wenn das doch als zu fremd erscheint, könnten wir eines unserer Lieblingslieder zunächst mal gemeinsam summen. Nicht, damit am Ende auch wirklich jeder „die richtigen Töne singt“, sondern um uns und unseren Stimmen zu erlauben, sich langsam zu entfalten und zu verbinden.
Oder wir stellen uns beim gemeinsamen Singen jeweils zu zweit Rücken an Rücken. Spüren die Wärme des Anderen, bringen leicht unsere Wirbelsäulen in Bewegung und nehmen wahr, wie die Stimme des Anderen und unsere eigene Stimme auf unserer Rückseite vibrieren.

Ich wünsche allen Singenden ein frohes Fest und für das neue Jahr viele glückliche Momente des Zusammenklingens.

Anna Stijohann