Rhythmusarbeit ist Stimmarbeit

Foto: „Clapping Hands“ // Urheber: Bara Cross

Eine meiner älteren Schülerinnen kam letzte Woche in den Unterricht mit dem Wunsch das Stück „One note samba“ von A.C. Jobim zu singen. Das Stück lebt von seinem synkopierten Sambarhythmus und erhält genau dadurch seinen gleichzeitig erdigen und schwebenden Charakter. Die Töne sind nicht schwierig zu erlernen und die Schülerin hatte auch schon recht fleißg mit verschiedenen Youtube-Aufnahmen zuhause geübt. Aber dann begann die Arbeit. Die Rhythmusarbeit um genau zu sein. Rhythmisches Gehen, Klatschen, Schwingen. Für meine Schülerin eine große Herausforderung und es kam schon nach kurzer Zeit die Frage, ob das Stück vielleicht nicht doch zu schwer sei, sie sei ja rhythmisch doch eher unerfahren und ob das unsere in den Stunden vorher begonnene, erfolgreiche Suche nach ihrer eigenen Stimme nicht eher bremsen würde. Ich sagte entschieden NEIN und hatte endlich das Thema für meinen neuen Blogbeitrag gefunden.

Rhythmusarbeit ist wichtig für den Klang

Ich versuche mit allen meinen Schülern früher oder später Rhythmusarbeit in den Unterricht einzubauen. Besonders das körperliche Empfinden von verschiedenen rhythmischen Ebenen fällt vielen schwer, ist aber als Training überaus wichtig und effektiv.

Rhythmusfähig zu werden heißt auch schwingungsfähig zu werden. Die Fähigkeit, Rhythmus und Puls körperlich zu empfinden, findet auf einer ähnlichen Ebene statt, wie Klangdurchlässigkeit. Die feinen, schnelleren Schwingungen des eigenen Stimmklangs können sich im Körper nur ausbreiten, wenn der Körper bereit ist, in Resonanz zu gehen. Die Schwingungen bei der Rhythmusarbeit sind auf den ersten Blick viel gröber, aber auch da braucht es die Fähigkeit des Körpers, gleichzeitig loszulassen und in Resonanz zu gehen.

Rhythmusübungen sind also immer auch eine Übung in Kontrollverlust bzw. entspannter Konzentration. Gleichzeit braucht es ein Mindestmaß an innerer Wachheit um z.B. einen fortlaufenden Rhythmus wirklich am Leben zu halten und innerlich weder zu verkrampfen noch abzuschweifen. Bei der Rhythmusarbeit TAKETINA, von der ich selber leider bisher nur rudimentäre Kenntnisse erwerben konnte, geht es genau darum: Sich dem Strom zu überlassen und auch zu lernen, sich in diesen Strom wieder einzufädeln, wenn man ihn verloren hat.

Meine rhythmische Basisübung

Wichtig für die Rhythmusarbeit ist mir, dass der ganze Körper involviert ist. Verschiedene rhythmische Ebenen laufen parallel und fordern den Körper in seiner Ganzheit heraus. Alleiniges Wippen mit dem Fuß oder reines Klatschen von Rhythmen hat seine Berechtigung, ist aber bei Weitem nicht so tiefenwirksam.

Meine Basisübung geht wie folgt: Die Füße laufend abwechselnd rechts und links auf eins und drei. Dabei kann ich laut oder leise zählen. Wichtig ist es, dass diese rhythmische Ebene immer stabil bleibt. Dazu kommen die Hände. Sie klatschen auf die Achtel. Gemeint ist nicht normales Klatschen, sondern eher ein rhythmisches An-einerander-Abklatschen der Hände, wie als wollte man sich beim Pizzabacken das Mehl von den Händen klopfen. Diese Bewegung ist relativ schnell und locker möglich. Zur Orientierung kann man sich eine Hand aussuchen und beobachten, wie sie erst abwärts und dann beim nächsten Schlag aufwärts „klatscht“.

Nun habe ich schon zwei parallellaufende rhythmische Ebenen. Leichter wird es, wenn dazu die Silben Ta-ke-ti-na gesprochen werden. Das Ta ist dabei immer mit den Füßen zusammen. Wer diese kleine Übung in verschiedenen Tempi locker beherrscht, kann unzählige Variationen erfinden. Sich währenddessen unterhalten ohne den Puls zu verlieren, den Rhythmus eines Liedes sprechen oder singen, verschiedene Silben (z.B. die Offbeats „ke“ und „na“) betonen, notierte Rhythmen vom Blatt sprechen oder auf Silben singen, sich darauf konzentrieren, dass der Rhythmus wirklich durch den ganzen Körper pulsiert usw.

Nicht viele verschiedene Dinge gleichzeitig – Alles ist eins

Diese sehr kleine Übung stellt für die allermeisten Menschen eine große bis sehr große Hürde dar. Oft höre ich den Satz: Das sind mir zu viele Dinge auf einmal. Aber genau das ist der Knackpunkt. Rhythmisches Bewegen auf verschiedenen Ebenen ist nicht „viele verschiedene Dinge gleichzeitig“, sondern eine einzige Sache. Sobald die Ebenen beginnen, wirklich mit einander in Beziehung zu treten, entsteht ein neues Ganzes und ein anderes Verständnis, das viel mehr Freiheit zulässt.

Und das ist beim Singen für mich exakt genauso. Singen und Bewegen sind ebenfalls nicht zwei Dinge. Auch nicht Text und Melodie. Alles geschieht aus ein und der selben Quelle heraus. Es geht weder darum, dieses und jenes zu tun, noch daran zu denken, irgendeine Technik zu beachten, aktiv zu interpretieren und dabei noch entspannt zu bleiben. Alles ist eins, dann beginnen die Einzelteile sich selbstregulativ zu organisieren und ein stimmiges Ganzes zu bilden. Rhythmusarbeit ist der perfekte Ort um genau für diese Ganzheit ein Gefühl zu entwickeln und diesen Zustand besser kennenzulernen um sich beim Singen ganz bewusst hineinfallen lassen zu können.

Wir bestehen aus Rhythmen

Neben der oben beschriebenen Basisübung kann man diese Art von rhythmischem Flow am Besten in der Improvisation erleben. Gemeinsames Laufen mit den Füßen kann auch hier helfen in einer Gruppe oder im Unterricht einen gemeinsamen Puls zu empfinden. Ein kleines Pattern bestehend aus wenig verschiedenen Tönen kann die Grundlage bilden, damit eine Improvisation oder ein Circle-Song bzw. ein Kreisgesang entstehen kann. Dabei wird das Pattern in einer Endlosschleife wiederholt, variiert oder kontrapunktiert, bis ein dichtes rhythmisch-melodisches Gebilde entsteht, in das auch unerfahrene Sänger sich leicht einfädeln können.

Eine schöne Möglichkeit ist es auch, auf einen eigenen inneren Rhythmus (z.B. eigener Puls, Rhythmus der eigenen Füße beim Gehen) zu lauschen und aus diesem eine Improvisation zu gestalten. Wir sind voll von inneren Rhythmen. Herz, Atem, Organe. In uns selbst laufen ständig verschiedene Rhythmen parallel ab. Diese Polyrhythmik auch im Außen wieder zu entdecken kann zu gesteigerter Lebendigkeit führen. Das Arbeiten mit Circle-Songs und rhythmischen Improvisationen kann regelrecht süchtig machen. Die ganzkörperliche Aktivität ist dabei elementar. Das archaische Grundmuster vom Erleben von gemeinschaftlichem Puls kann sehr tiefe Einblicke in das eigene Menschsein erlauben.

Positive Effekte der Rhythmusarbeit

Für das Anwenden der Rhythmusarbeit im Gesangsunterricht oder im Chor möchte ich noch einige positive Effekte ansprechen. Körperliches rhythmisches Empfinden – so groß die Hürde der ersten Schritte auch sein mag – führt beim Singen im Allgemeinen zu mehr innerer Sicherheit. Gerade Anfänger oder Chorsänger „schwimmen“ anfangs häufig nicht nur tonal, sondern vor allem auch rhythmisch. Kann die rhythmische Ebene über das körperliche Tun stabilisiert werden, stabilisiert sich in den meisten Fällen auch die stimmliche Seite.

Rhythmusarbeit ermöglicht außerdem die Entwicklung eines Grundgefühls von Dynamik. Spannung und Entspannung, Betonung und Unbetonung, Anschieben und Rollenlassen, Verdichtung und Zerfaserung, Beschleunigung und Innehalten, Tun und Lösen. Diese Wechsel sind für müheloses, genussvolles Singen (und auch Leben) elementar wichtig. Über das körperlich-hythmische Üben von Stücken können sich diese außerdem noch auf einer tieferen Ebene absetzen und der Sänger erhält somit mehr Freiheit und Gestaltungsspielraum.

Auch Stücke, die keinen durchgängigen Puls haben oder in denen eine dehnbare Dynamik und Agogik vorliegt, profitieren von der Rhythmusarbeit. Wie sich Wellen im Meer oder auch unser Atem je nach Wetter- bzw. Stimmungslage mal beschleunigt, mal beruhigt, gibt es auch in solchen Stücken durchaus soetwas wie Puls. Diesen körperlich zu empfinden ist ebenso sinnvoll. Bin ich darin geübt, mich in durchgängige Rhythmen einzufädeln, kann ich auch ganz bewusst bremsen und aus dem „Rollen“ aussteigen.

Je genauer und selbstverständlicher ich mich körperlich in rhythmischen Zusammenhängen bewege, desto feiner kann ich auch die Unterschiedlichkeiten musikalisch-rhythmischer Metren empfinden. Das eine Stück läuft präzise wie ein Uhrwerk, ein anderes braucht ein „laidback“-Gefühl. Das eine Stück schwebt, das andere tanzt. Körperlich sind meine Empfindungen dabei jeweils völlig anders. Selbst wenn das Tempo gleich ist, fühlt sich „klebrig“ anders an als „spritzig“, „schwerfällig“ anders als „gelassen“.

Durch diese Arbeit kann der Sänger gleichzeitig Freiheit und Sicherheit und in jedem Fall neue Erzählebenen für sein Musizieren hinzugewinnen.

Pulsierende Stimmeinsichten und Mut zum Körperrhythmus wünscht

Anna Stijohann